This article highlights the transformation of the German Institute for Economic Research (“DIW Berlin”) towards a strong dedication to evidence-based policymaking, as part of its centennial celebrations in 2025. This shift, which took place during the first decade of the 21st century, was in response to a directive from the German Council of Science and Humanities (“Wissenschaftsrat”) aimed at all German economic research institutes. A key factor in this success was the integration of research and policy advice, achieved through stringent publication requirements for all staff members.
This article contributes to the 100 stories posted on the DIW Berlin website on the occasion of the 100 years celebration of DIW Berlin in 2025. (Article 52)
Die Transformation des Instituts im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts
Die Einheit von Forschung und Beratung. Neuausrichtung des DIW Berlin
Alexander Kritikos, Günter Stock und Klaus F. Zimmermann
“Verbesserungsbedürftig” – so beurteilte der Wissenschaftsrat in einem Gutachten 1998[1] die empirische Wirtschaftsforschung und wirtschaftspolitische Beratung in den deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten, ebenso wie ihre Vernetzung mit den Universitäten. Sich dieser Herausforderung zu stellen, war demnach auch die zentrale Aufgabe des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. In diesem Beitrag berichten der damalige Präsident Klaus F. Zimmermann, der damalige Kuratoriumsvorsitzende Günter Stock, sowie das derzeitige Vorstandsmitglied Alexander S. Kritikos von der darauffolgenden Neuausrichtung des Instituts und seiner langfristigen Bedeutung.
Politikberatung sei nicht hinreichend durch eigene wissenschaftliche Forschung unterfüttert, schrieb der Wissenschaftsrats in seinem Gutachten, und machte umfangreiche Gestaltungsvorschläge. Er forderte unter anderem unabhängige eigenständige Forschung, ihre Veröffentlichung in hochrangigen internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften und ihre Nutzung in transparenten externen Beratungsprozeduren (siehe Box). Dies war ein deutliches Bekenntnis zur evidenzbasierten wissenschaftlichen Politikberatung auf Basis einer rigorosen Darstellung metrisch belegter Ergebnisse. Eine solche Politikberatung ist zwar aus historischer Sicht kein neues Konzept, sie ist aber angesichts wissenschaftlicher Methoden- und Erkenntnisfortschritte sowie der gestiegenen Datenzugänge und der erreichten Effizienz ihrer Auswertung erheblich nutzbarer geworden. Allerdings bedrohen falsche politische Prioritäten oder Populismus langfristig mögliche Erfolge dieses Politikansatzes.
Das Ziel: evidenzbasierte Politikberatung
Die Politik steht immer wieder vor einer wachsenden Zahl von Herausforderungen, die permanent neue und gleichzeitig komplexere Gesetze, Vorschriften und Reformen erfordern. Entsprechend müssen politische Entscheidungsträger fortlaufend Entscheidungen von großer Tragweite treffen. Evidenzbasierte Politikberatung hat dabei das Ziel, unter Anwendung der neusten Methoden und Konzepte zu analysieren, welche dieser politischen Maßnahmen gut funktionieren und welche nicht. Um evidenzbasierte Politikberatung erfolgreich umzusetzen, sind bestimmte Rahmenbedingungen notwendig, die Ende der 1990er Jahre keineswegs selbstverständlich waren. Dazu zählen auf Seiten derer, die evidenzbasierte Politikberatung bereitstellen:
- Offene Zugänge zu den relevanten Daten.
- Unabhängige Forschungsinstitutionen, die diese Dateninfrastruktur den wissenschaftlich Beratenden uneingeschränkt zur Verfügung stellen.
- Unabhängige Forschende, die bereit sind, mit diesen Daten unter Einhaltung strenger Regeln guter wissenschaftlicher Praxis zu arbeiten und Forschung ergebnisoffen mit den neuesten metrischen Methoden durchzuführen, die evidenzbasierte Politikberatung erlauben.
- Hochkarätige Journale, die solche Forschung im Wettbewerb und nach sorgfältiger Begutachtung veröffentlichen, und damit evidenzbasierter Politikberatung das notwendige Siegel geben, dass die verwendeten Daten und Methoden und damit die Ergebnisse den besten Standards entsprechen.
- Netzwerke von Forschenden, um Aktivitäten in Richtung evidenzbasierter Politikberatung zu bündeln und zu etablieren.
- Die wissenschaftlich Beratenden tragen somit aktiv zur Gewinnung wissenschaftlicher Evidenz bei, indem sie ihre Ergebnisse in geeigneten wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlichen. Nur wer den Forschungsstand gut kennt, kann international wettbewerbsfähige Ratschläge geben. Der Wissenschaftsrat und andere Organisationen wie der Verein für Socialpolitik haben regelmäßig betont, dass diese Einheit aus Forschung und Beratung notwendig ist.
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Box. Evidenzbasierte wissenschaftliche Politikberatung
- „Zentral für die Qualität sind im Wesentlichen drei Gesichtspunkte: Qualität der wissenschaftlichen Fundierung; Unabhängigkeit; Transparenz der Beratungsprozeduren.“ (S. 21)
- „Dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit durch externe Beratung (wird) große Bedeutung zugemessen.“ … „Interne wirtschaftspolitische Beratung wird in Deutschland weniger geschätzt, da sie die Trennungslinie zwischen Politik und unabhängiger Beratung überschreitet.“ (S. 22)
- „In der Diskussion wirtschaftspolitischer Fragen (sind) ideologische Positionen durch eine möglichst breite und vollständige Palette von Fach- und Sachargumenten zu ersetzen“. (S. 22)
- “Qualifizierte Leistungen in der wirtschaftswissenschaftlichen, insbesondere der empirischen Forschung, bestätigt durch anerkannte Publikationen, sind hervorragende Voraussetzungen für gute wirtschaftspolitische Beratung.” (S. 22)
- “Vor allem aber müssen die Institute Mitarbeitern, besonders dem wissenschaftlichen Nachwuchs, in geeigneten Fällen die Gelegenheit geben, Aufsätze in wichtigen nationalen und internationalen Fachzeitschriften zu veröffentlichen.“ (S. 26)
Quelle: WISSENSCHAFTSRAT (1998), Stellungnahme zu den Wirtschaftsforschungsinstituten der Blauen Liste in den alten Ländern. Drs. 3320-98 Berlin, 23. Januar 1998
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Diese Form der Politikberatung kann von den Instituten jedoch nur dann erfolgreich betrieben werden, wenn auf Seiten der Entscheidungsträger die Bereitschaft besteht, zuzuhören und die Erkenntnisse zu berücksichtigen. Dafür braucht es politisch Handelnde, die evidenzbasierter Politikberatung ein Gewicht geben und die bereit sind, sich in den Dialog mit den wissenschaftlich Beratenden zu begeben. Allerdings muss die Politik dazu ihre Ziele klar und transparent offenlegen, sonst ist eine angemessene wissenschaftliche Analyse nicht möglich.
Das DIW Berlin hatte zum Teil gute Voraussetzungen, die Anforderungen des Wissenschaftsrates umzusetzen. Zwar war die tägliche Arbeit wie bei den anderen deutschen Forschungsinstitutionen stark durch Beratungsaufträge geprägt, aber das Institut verfügte über folgende Aktivposten: die Stärke im Datenzugang durch die Bereitstellung eigener Daten, unter anderem der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und des Sozioökonomischen Panels (SOEP), der Zugang zu den zahlreichen Universitäten und Forschungseinrichtungen des Großraums Berlin und die räumliche Nähe zur Bundesregierung. Darüber hinaus gab es mit dem DIW-Wochenbericht ein etabliertes Format für den Wissenstransfer.
Dennoch machte die Neuausrichtung des Instituts auf eine auf wissenschaftlichen Publikationen fußende Politikberatung einen umfassenden Veränderungsprozess notwendig. Nicht alle wissenschaftliche Beschäftigte waren von der Fokussierung auf eine mit neusten metrischen Methoden durchzuführte Forschung begeistert. Die Forschenden des DIW Berlin waren nun gefordert, für ihre Arbeiten nationale und internationale Kooperationen einzugehen, und ihre wissenschaftlichen Papiere bei nationalen und internationalen Konferenzen vorzutragen. Ziel war die regelmäßige Publikation in Fachzeitschriften möglichst vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, d.h. eine breite Beteiligung an der gestellten Aufgabe. Nur auf Forschung oder nur auf Beratung Spezialisierte sollte es – soweit möglich – nicht mehr geben. Bei der Einstellung waren Forschende gefragt, die sich der Doppelaufgabe aus Forschung und Beratung stellen wollten. Gleichzeitig musste ihnen ein attraktives Umfeld geboten werden, damit sie sich für das im Umbruch befindende DIW Berlin entschieden. Dafür musste auch der Datenzugang für die Forschenden weiter gestärkt werden.
Insofern war die Transformation auf die neue Doppelrolle aus eigenständiger Forschung und Politikberatung im ersten Jahrzehnt mit Reibungen verbunden. Allerdings trug der Veränderungsprozess rasch Früchte[2] (siehe auch Abb. unten). Gab es vor 2000 im DIW Berlin kaum Publikationen in referierten Fachzeitschriften, die im renommierten Katalog der Zeitschriften des SSCI (Social Sciences Citation Index, eine Zitationsdatenbank der Sozialwissenschaften) gelistet sind, so stieg die Zahl rapide an, von 6 im Jahr 2000 auf 92 im Jahr 2010. Wichtig war dabei auch, dass diese Expansion beim DIW Berlin wie angestrebt von einer breiten Mitarbeiterschaft getragen wurde.[3] Im Jahr 2020 stieg die Zahl der Publikationen weiter auf 127 an. Zuletzt gab es wegen der Covid-Pandemie Sondereffekte. 2024 lag – auch aufgrund leicht sinkender Beschäftigtenzahlen – die Zahl bei gleichzeitig ansteigender Qualität der Veröffentlichungen bei 108.
Abbildung: DIW Berlin: SSCI – Artikel, 2000 – 2024: Quelle SSCI

Autoren: Alexander S. Kritikos, Günter Stock und Klaus F. Zimmermann
Dieser Veränderungsprozess wurde sukzessive umgesetzt und durch weitere Elemente forciert. Zum einen übernahmen mit den Universitäten des Großraums Berlin gemeinsam berufene Professorinnen und Professoren die Abteilungsleitungen. Zum anderen baute das DIW Berlin als erstes Wirtschaftsforschungsinstitut in Deutschland ein eigenständiges Doktorandenprogramm auf, das DIW Graduate Center, das sich an den Bedarfen einer evidenzbasierten Politikberatung orientierte. Zentral war dabei neben einer weiterführenden empirisch orientierten Ausbildung auch die Vernetzung in die Welt der vor allem in den USA viel weiter etablierten evidenzbasierten Politikberatung, die über die frisch gegründete Dependance DIW DC möglich gemacht wurde. Vor allem das Graduate Center sollte sich als ein wichtiger Schlüssel für den Veränderungsprozess erweisen. Unterstützt wurden diese Schritte durch eine Umbenennung in DIW Berlin zur Identifikation mit der Hauptstadt und den Umzug in die Stadtmitte, um noch näher an Politik und Medien zu sein. Außerdem wurde das Datenservicezentrum des Statistischen Landesamtes (FDZ) am DIW Berlin angesiedelt. Das Institut engagierte sich somit in vielfältiger Weise für den Zugang der Wissenschaft zu den Daten des öffentlichen Bereichs Deutschlands. Mit der Neugründung der DIW econ wurde darüber hinaus die Möglichkeit eröffnet, Beratungsaufgaben im Rahmen der Auftragsforschung flexibel nachzugehen und neue Finanzierungsquellen zu erschließen.
Gute Wissenschaft braucht Zeit
Die Meisterung der Doppelaufgabe aus Forschung und Beratung ist und bleibt eine große Herausforderung. Was akademisch interessant ist, ist für Politik oft irrelevant. Die Politik sucht häufig kurzfristig Ratschläge zu ungeklärten Fragen, wohingegen solide Evidenzforschung neben guter Wissenschaft vor allem Zeit verlangt. Da die wissenschaftlich Beratenden ihre Ergebnisse in Fachzeitschriften publizieren sollen, müssen sie sich dem akademischen Wettbewerb und der Kontrolle anonymer Gutachter stellen, die hohen Qualitätsstandards folgen. Eine Fachpublikation kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen.
Die großen Forschungs- und Publikationserfolge beeinflussten auch die evidenzbasierte Politikberatung im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mit nachhaltiger Wirkung. So beriet das DIW Berlin beispielsweise die EU-Kommission zur Osterweiterung und die Bundesregierungen zu den Reformen des Arbeitsmarktes und den Evaluationen ihrer langfristigen Wirkungen. Das Doktorandenprogramm hat sich in Verbindung mit den Berlin-Brandenburger Universitäten weiter verfestigt. Die Nachwuchsforschenden des DIW Berlin erhielten Professuren nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern, den USA und Indien, leiten inzwischen eigene Institute oder arbeiten in deutschen Ministerien und tragen damit die Standards evidenzbasierter Politikberatung in die Politik. Trotz dieser Erfolge wird das Potenzial der evidenzbasierten Politikberatung von der Politik in Deutschland immer noch nicht voll ausgeschöpft. Die Forderung nach einer evidenzbasierten Politikberatung als Einheit von Forschung und Beratung ist also eine bleibende Herausforderung, die vor dem Hintergrund des steigenden Populismus in Deutschland und weltweit erheblich zunehmen wird.
[1] WISSENSCHAFTSRAT (1998), Stellungnahme zu den Wirtschaftsforschungsinstituten der Blauen Liste in den alten Ländern. Drs. 3320-98 Berlin, 23. Januar 1998.
[2] R. Ketzler; K. F. Zimmermann: A Citation-Analysis of Economic Research Institutes. Scientometrics, 95 (2013), 1095-1112, Fig. 1, S. 1099.
[3] R. Ketzler; K. F. Zimmermann: Publications: German Economic Research Institutes on Track, Scientometrics, 80 (2009), 233-254, S. 20.
FURTHER READINGS
- DIW. Die Vermessung der Wirtschaft. 100 Jahre DIW Berlin, Berlin 2025. https://www.diw.de/fp/Vermessung_der_Wirtschaft_2025/mobile/index.html
- K. F. Zimmermann: Advising Policymakers through the Media, Journal of Economic Education; Fall 2004; 35:4; 395-405.
- K. F. Zimmermann: Der Berater als Störenfried: wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung, Wirtschaftsdienst, 88 (2008), 101-107.
- K. F. Zimmermann: Wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung: Entscheidungsbeitrag oder Feigenblatt, in: H. Handler and H. Schneider (Eds.), Beratung und Entscheidung in der Wirtschaftspolitik. Industriewissenschaftliches Institut, Wien, 2008, 11-20.
- K. F. Zimmermann: Prognosekrise: Warum weniger manchmal mehr ist, Wirtschaftsdienst, 2 (2009), 86-90.
- K. F. Zimmermann: Evidenzbasierte Politikberatung, DIW-Vierteljahrshefte, 80:1 (2011) Jubiläumsheft, 23-33.
- K. F. Zimmermann: Evidenzbasierte wissenschaftliche Politikberatung, Schmollers Jahrbuch, 134:3 (2014), 259-270. Also IZA Standpunkte Nr. 74, September 2014.
- K. F. Zimmermann: Lobbyisten der Wahrheit, Deutsche Universitätszeitung (DUZ), 3 (2015), 14-15.
- K. F. Zimmermann: More global solidarity will also provide higher well-being. In: A Symposium of Views. Why is Populism On the Rise and What Do the Populists Want? The International Economy. Winter 2019. S. 33.
- K. F. Zimmermann: Wissenschaftliche Politikberatung als Herausforderung, in Wirtschaftliche Freiheit. Das ordnungspolitische Journal, 22 June 2022.